Migrations- und Asylpolitik à la carte: Freie Fahrt für Blockierer

Kommentar

Mitte September machte sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für einen menschenwürdigen und solidarischen Ansatz in der gemeinsamen EU-Asylpolitik stark. Wenig später ist von ihren Versprechungen allerdings kaum noch etwas übrig.

Europaflagge mit Rissen

Am 23. September legte die Europäische Kommission ihren lang angekündigten Vorschlag zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem vor. „Dublin is dead!“ verkündete der Vizepräsident der Kommission Margaritis Schinas schon Anfang des Jahres. Mitte September meinte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen während ihrer ersten Rede zur Lage der EU, dass Migration unsere Kulturen bereichert habe. Die Rettung von Menschenleben auf See sei nicht optional. Sie betonte, dass Moria uns schmerzhaft an die Notwendigkeit erinnere zueinanderzufinden und kündigte an, die Bedingungen für Geflüchtete verbessern zu wollen. Die EU benötige einen menschenwürdigen und solidarischen Ansatz in der gemeinsamen Asylpolitik. Wer von ihren Worten beflügelt war, den holte das Paket eine Woche später auf den Boden der frustrierenden Tatsachen zurück. 

Das Framing: Migration als Managementaufgabe

Während der Pressekonferenz beschrieb Margaritis Schinas das „Neue Migrations- und Asyl-Paket“ (Englisch: New Pact on Migration and Asylum) als einen frischen Start und Kompromiss. Durch den Vergleich der zukünftigen EU-Migrations- und Asylpolitik mit einem dreistöckigen Haus schilderte er unmissverständlich die Prioritätensetzung der Kommission: Der erste Stock stelle die externe Dimension dar, also die Beziehungen zu Herkunfts- und Transitländern, der zweite Stock stehe für das Management der Außengrenzen und der dritte für faire interne Regeln und Solidarität. Er hoffe, dass das Paket die Grundlage für ein ordnungsgemäßes, rationales und gemeinsames Migrationsmanagement lege. Doch bei genauerer Lektüre wird schnell klar, dass das Paket in einem himmelschreienden Kontrast zu den Versprechungen und sorgfältig gewählten Worten der Kommissionspräsidentin steht. Denn in der Praxis bedeutet der nun vorgelegte Vorschlag keine Überwindung, sondern eine Fortsetzung und auch Verschärfung der dysfunktionalen Dublin-Verordnung. Im neuen Jargon der Kommission wurde für Dublin lediglich ein neues Wort gefunden: „Migrationsmanagement“.

Screening, Ankunftszentren, Grenzverfahren

Künftig soll noch vor der Einreise in die EU eine Vorprüfung (Screening) durchgeführt werden. Dabei soll neben der Aufnahme in die Eurodac-Datenbank und der Durchführung einer Gesundheits- und Sicherheitskontrolle auch entschieden werden, welche Schutzsuchenden ein reguläres Asylverfahren und welche ein sogenanntes „Grenzverfahren“ durchlaufen müssen. Ausschlaggebend dafür ist, wie hoch die Anerkennungsquoten für Menschen der entsprechenden Nationalität ist (Schutzquote bei Grenzverfahren unter 20 Prozent), ob die Person aus einem „sicheren Herkunftsland“ stammt oder aus einem „sicheren Drittstaat“ einreist. Das Screening soll maximal fünf Tage in Anspruch nehmen. Grenzverfahren, inklusive eines Widerspruchs, werden auf zwölf Wochen begrenzt. Sowohl das Screening vor der Einreise als auch die Grenzverfahren sollen in sogenannten „Ankunftszentren“ (geschlossene Grenzlager) durchgeführt werden.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie Kinder unter zwölf Jahren mit ihren Familien sind von den Grenzverfahren ausgenommen. Ein positiver Aspekt des Vorschlags der Kommission ist, dass das Recht auf Familienzusammenführung auf Geschwister ausgeweitet wird.

Solidarität à la carte

Seit 2015 sorgt die Frage, wie die Umverteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU geregelt werden kann, für heftige Konflikte. Mit ihrem Vorschlag plädiert die Kommission für „flexible Solidarität“ und unterscheidet dabei in drei Phasen. Ob dadurch das Problem der nicht funktionierenden Umverteilung von Schutzsuchenden innerhalb der EU gelöst werden kann und die südeuropäischen Mitgliedstaaten entlastet werden, muss stark bezweifelt werden. Zuständig für die Durchführung der Vorprüfungen, Grenzverfahren und Asylverfahren bleibt nach wie vor der Mitgliedstaat, in dem Schutzsuchende ankommen. Für „normale Zeiten“ setzt die Kommission auf eine freiwillige innereuropäische Verteilung. Wenn Ankunftsstaaten unter „erhöhtem Druck“ stehen, schlägt die Kommission vor, dass sich die Mitgliedstaaten nach einem Schlüssel (Bevölkerungszahl und BIP) mit unterschiedlichen Beiträgen beteiligen. Das vorgelegte Konzept der „flexiblen Solidarität“ sieht vor, dass Mitgliedstaaten in dieser Phase wählen können, wie Solidarität geleistet wird. Drei Optionen sind möglich: Aufnahme von Schutzsuchenden (Relocation-Verfahren), Übernahme von sogenannten „Rückführungspatenschaften“ (return sponsorships) sowie weitere Leistungen im Bereich Migrationsmanagement wie zum Beispiel Kapazitätsaufbau. In Bezug auf die sogenannten Rückführungspatenschaften darf ein Mitgliedstaat auswählen, für Menschen welcher Nationalität er diese übernehmen möchte. Die Maßnahmen zur Abschiebung müssen innerhalb von acht Monaten ergriffen werden. Gelingt dies nicht, müssen die Personen von dem Mitgliedstaat aufgenommen werden. Wenn die Kommission den „Krisenmechanismus“ triggert, kann der Anwendungsbereich der „obligatorischen Umsiedlung“ und „Rückkehrförderungen“ ausgeweitet werden. Mitgliedstaaten sollen in diesem Fall zur Aufnahme von Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und Menschen ohne Bleiberecht oder zur Übernahme von Rückführungspatenschaften verpflichtet werden (der Zeitraum für den Abschluss von Abschiebungen wird in Krisensituationen auf vier Monate verkürzt). Weitere Leistungen sind in dieser Phase nicht möglich. Grenzverfahren können dann ausgeweitet (Schutzquote unter 75 Prozent) und die Inhaftierungen in den Grenzlagern verlängert werden. Auf die Frage, was passiert, wenn zu wenige Mitgliedstaaten bereit sind, Schutzsuchende aufzunehmen, liefert der Kommissionsvorschlag leider keine Antworten. Sanktionsmechanismen sind nicht Teil des Pakets. Abschiebungen haben für die Kommission offensichtlich Priorität. Sie schlägt deshalb die Ernennung einer Person zur „EU-Koordination von Rückführungen“ (Return Coordinator) vor, die über ein Netzwerk nationaler Vertreterinnen und Vertreter verfügen würde. FRONTEX, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, soll der „operationelle Arm“ der EU-Rückführungspolitik werden.

Keine Wiederaufnahme der europäischen Seenotrettung

Für Geflüchtete, die aus Seenot gerettet werden, soll das gleiche Verfahren gelten wie für Asylsuchende an den Landesgrenzen. Die Kommission plant keine Wiederaufnahme der europäischen Seenotrettung im Mittelmeer. Seit April 2019 ist kein nationales oder europäisches SAR-Schiff mehr im Mittelmeer aktiv. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die diese Lücke zu füllen suchen, werden massiv in ihrer Arbeit behindert und müssen strafrechtliche Verfolgung fürchten. Mit Verweis auf die Covid-19-Pandemie schlossen Italien und Malta im April und Mai ihre Häfen für Schiffe, die aus Seenot Gerettete an Bord hatten. Darüber hinaus wird immer wieder die libysche Küstenwache angewiesen, die Rettung von in Seenot geratenen Personen zu übernehmen – obwohl eindeutig ist, dass Libyen kein sicherer Ort ist, an den laut internationalem Seerecht gerettete Menschen gebracht werden dürfen. Mit ihrem Vorschlag empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten unverbindlich, Rettung von Menschen aus Seenot durch Nichtregierungsorganisationen (NRO) zukünftig nicht mehr zu kriminalisieren. Außerdem strebt sie eine engere Kooperation von Küstenstaaten und Flaggstaaten wie Deutschland an, unter deren Flagge NRO-Schiffe im Mittelmeer Geflüchtete retten. Dadurch soll die Sicherheit auf See erhöht und „relevante Regeln des Migrationsmanagements“ eingehalten werden. Die Grünen im Europäischen Parlament kritisieren, dass die Kommission mit dieser Empfehlung in die gleiche Richtung stößt wie die Bundesregierung: Sie hatte die Sicherheitsanforderungen für NRO-Rettungsschiffe bereits vor einigen Monaten erhöht und damit kleinere NRO-Schiffe aus dem Verkehr gezogen.

Freie Fahrt für Blockierer

Mit ihrem Konzept der „flexiblen Solidarität“ kommt die Kommission den Regierungen sehr weit entgegen, die seit Jahren solidarische Lösungsansätze blockieren und keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Allerdings meldeten sich genau diese Regierungen nur wenig später mit lauter Kritik zu Wort: Aus Budapest war zwar durchaus Lob für den „neuen Ton“ des Pakets zu vernehmen, die Position der Regierung, so Regierungschef Viktor Orbán, bleibe aber unverändert. Die Quote, die die ungarische Regierung strikt ablehne, sei immer noch Teil des Vorschlags. In Prag betonte Premier Andrej Babiš, dass Migration gestoppt werden müsse. Aber nicht nur in den Visegrád-Staaten, auch in Berlin wird von einem „dicken Aufgabenheft für die Verhandlungen“ gesprochen. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei kritisierte in einem Interview ausgerechnet den von der Kommission erweiterten Familienbegriff, weil er „vor allem uns stärker belasten würde“ und bemängelte, dass das Paket die „Interessen Deutschlands“ nicht ausreichend berücksichtige. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft nennt drei Schwerpunkte, bei denen sie bis Ende 2020 eine politische Einigung erzielen möchte: Verfahren vor Einreise in die EU, Prävention von Asylmissbrauch und Solidarität.   

Die konstruktive und wichtige Rolle, die Städte und Gemeinden bei der Umverteilung von Schutzsuchenden spielen könnten, wird im Paket nicht erwähnt. Dabei haben sich allein in Deutschland mehr als 170 Städte und Kommunen als sichere Häfen erklärt und wollen Geflüchtete aufnehmen. Ihnen sind allerdings nach wie vor die Hände gebunden, weil sich die 27 Hauptstädte nicht auf eine menschenwürdige und solidarische europäische Asyl- und Migrationspolitik einigen wollen. Solange die Blockierer in der Europäischen Union freie Fahrt haben, wird sich an diesem traurigen Zustand nichts ändern.

Solidarität bedeutet das unbedingte und auch wertschätzende Zusammenhalten aufgrund gleicher Anschauungen, Werte und Ziele. Synonyme für Solidarität sind u.a. Zusammengehörigkeit, Gemeinschaftsgeist und Verbundenheit. Solidarität erfolgt nicht, indem man verkündet, es gäbe davon eine „flexible“ Version. Diese Wortkombination erinnert vielmehr schmerzhaft an den unzureichenden Zusammenhalt in der Europäischen Union und die Gefahr, dass die Werte des europäischen Projekts von Innen ausgehöhlt und dabei sowohl Schutzsuchende als auch die EU-Nachbarschaft im Stich gelassen werden.

Wer ein Haus bauen möchte, in dem ein solidarisches Miteinander gelebt werden kann, sollte sich bei der Planung auf Gemeinschaftsräume und -orte für dialogbereite Bewohnerinnen und Bewohner fokussieren. Der Versuch, destruktiven Mitbewohnenden über separate Ein- und Ausgänge das Leben leicht zu machen, ist schlicht und ergreifend der falsche Ansatz.